Humanoide Robotik: Vom Labor in die Fabrikhalle
In Kooperation mit dem Fachmagazin Automation Next – Chefredakteur Philip Bittermann
Die Ära der humanoiden Roboter hat begonnen. Was jahrelang wie Science-Fiction klang, wandelt sich gerade zur industriellen Realität. Zwischen fortgeschrittenen Prototypen und ersten Serienprodukten vollzieht sich aktuell eine Entwicklung, die ganze Branchen verändern könnte.
Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Der globale Markt für humanoide Roboter wird nach Einschätzung von Fortune Business Insights von 3,28 Mrd. US-Dollar im Jahr 2024 auf prognostizierte 66 Mrd. US-Dollar bis 2032 wachsen – das entspräche einer jährlichen Wachstumsrate von 45,5 %. Und laut einer Studie des Research Unternehmens Nexery könnten bis 2030 weltweit bereits 20 Mio. humanoide Roboter im Einsatz sein. Nur zum Vergleich: Aktuell gibt es weltweit insgesamt circa 4,3 Mio. Industrieroboter und Cobots.
Was diesen Boom antreibt, ist eine Kombination aus technologischen Durchbrüchen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Fortschritte bei KI, Sensorik und Antriebstechnik machen die Roboter immer leistungsfähiger, während gleichzeitig Arbeitskräftemangel und steigende Lohnkosten den Automatisierungsdruck erhöhen.
Marktreife Lösungen: Die Pioniere
Digit von Agility Robotics führt das Feld der kommerziell verfügbaren humanoiden Roboter an. Der zweibeinige Roboter ist bereits in großen Stückzahlen bei Amazon und dem Logistikdienstleister GXO im Einsatz. Seine Stärke liegt in der Vielseitigkeit: Digit kann Pakete transportieren, sortieren und in Regale einräumen – alles in Umgebungen, die ursprünglich für Menschen konzipiert wurden.
Figure 02 von Figure AI gilt als einer der fortschrittlichsten humanoiden Roboter der Welt. Ausgestattet mit einer komplett neu konstruierten Hand mit fünf Fingern und Sensoren an den Fingerspitzen sowie einem innovativen Fußdesign, das menschenähnliches Gehen ermöglicht, arbeitet sein Vorgänger Figure 01 bereits im BMW-Werk.
Apollo von Apptronik konzentriert sich auf Lagerhausarbeiten. Das texanische Unternehmen, das bereits den NASA-Roboter Valkyrie entwickelte, hat im März 2024 ein kommerzielles Abkommen mit Mercedes-Benz geschlossen, um Apollo in Fertigungsanlagen zu pilotieren.
Atlas von Boston Dynamics wechselte 2024 von einer hydraulischen zu einer vollelektrischen Version und soll noch 2025 in einer Hyundai-Fabrik zum Einsatz kommen – der erste kommerzielle Einsatz für den legendären Roboter, der seit 2013 mit spektakulären Videos für Aufsehen sorgt.
Der deutsche Vertreter 4NE-1 von Neura Robotics wurde bereits 2023 auf der Automatica präsentiert und im Juni 2025 offiziell gelauncht. Der Fokus liegt auf emotionaler Mensch-Maschine-Kommunikation – ein besonderes Merkmal im internationalen Wettbewerb.
Kosteneffiziente Alternativen
Einen anderen Weg geht Igus mit dem in Köln entwickelten Iggy Rob, der für knapp 48.000 Euro angeboten wird. Möglich wird dieser Preis durch die Kombination hauseigener Komponenten wie den ReBeL Cobots für die Roboterarme. Igus will den Roboter zunächst im eigenen Unternehmen für die Automation von Spritzgießmaschinen einsetzen.
Der chinesische Hersteller Unitree positioniert sich mit dem G1 als besonders kostengünstige Lösung für etwa 16.000 US-Dollar, während das Premium-Modell H1 für 90.000 US-Dollar vermarktet wird und mit einer Gehgeschwindigkeit von 18 km/h aufwartet.
Die Entwicklungspipeline: Morgen schon Realität
Tesla Optimus ist wohl das ambitionierteste Projekt. Elon Musk kündigte an, dass Tesla bis Ende 2025 erste Exemplare verkaufen könnte, wobei der Zielpreis bei etwa 20.000 US-Dollar liegt. Tesla plant, bereits 2024 rund 1.000 Optimus-Roboter in den eigenen Fabriken einzusetzen. Musk prognostiziert, dass der Roboter die Bewertung von Tesla auf 25 Bio. US-Dollar treiben könnte.
Phoenix von Sanctuary AI aus Kanada wird als erster humanoider General-Purpose-Roboter bezeichnet, gesteuert durch die firmeneigene KI-Plattform Carbon. Im März 2024 absolvierte Phoenix einen kommerziellen Piloteinsatz, bei dem er über 110 Einzelaufgaben in einem Retail-Umfeld ausführte.
Clone Robotics aus Polen verfolgt einen radikal anderen Ansatz: Der Protoclone verfügt über 1.000 künstliche Muskelfasern und 500 Sensoren, die Bewegungen mit bisher unerreichter menschenähnlicher Präzision ermöglichen sollen. Das Unternehmen plant, noch 2025 Vorbestellungen für „Clone Alpha“ entgegenzunehmen – einen lernfähigen Haushaltsroboter, der putzen, Essen servieren und sich unterhalten können soll.
Der chinesische E-Auto-Hersteller Xpeng stellte im November 2024 seinen Iron vor und plant Investitionen zwischen 7 und 14 Mrd. US-Dollar über mehrere Jahre zur Skalierung der Roboterproduktion. Auch Addverb Technologies, unterstützt von Reliance, kündigte an, bis 2025 humanoide Roboter der nächsten Generation mit fortschrittlicher KI auf den Markt zu bringen.
Technologische Innovationen
Ein besonders interessantes Forschungsprojekt ist Human2HumanOid (H2O) der Carnegie Mellon Universität. Hier wird die Fernsteuerung von humanoiden Robotern durch eine simple RGB-Kamera erforscht. Das System nutzt Reinforcement Learning, sodass der Roboter nicht einfach Bewegungen nachahmt, sondern selbst die besten Verarbeitungswege findet. Dies könnte Tätigkeiten ermöglichen, die für eine autonome Ausführung noch zu komplex sind – theoretisch sogar aus dem Homeoffice.
Die Jetson Thor-Plattform von NVIDIA in Kombination mit ADI-Sensorik soll humanoide Roboter auf ein neues Level heben. Die Zusammenarbeit zwischen Hardware- und Softwareherstellern wird zunehmend zur Voraussetzung für Fortschritte in der physikalischen KI.
Einsatzgebiete: Mehr als nur Fabrikarbeit
Während Logistik und Fertigung die Haupteinsatzgebiete darstellen, zeigen sich humanoide Roboter zunehmend vielseitig. Der Robbyant R1 debütierte auf der IFA 2025 als Koch-Roboter für die Gastronomie. Fischer BauBots setzen humanoide Systeme im Infrastrukturbereich ein – im Engelbergtunnel bohrten smarte Roboter 9.000 millimetergenaue Löcher in über 7 m Höhe.
Auch im Handwerk zeichnet sich ein Wandel ab: Der japanische HRP-5P vom National Institute of Advanced Industrial Science and Technology demonstrierte bereits, wie ein humanoider Roboter selbstständig eine Trockenbauwand aufstellt – vom Transport über das Einpassen bis zum Verschrauben.
Die Herausforderungen bleiben
Trotz aller Fortschritte gibt es erhebliche Hürden. Die größte Herausforderung ist das Training für neue Aufgaben. Experten setzen hier auf Fortschritte bei großen Sprachmodellen, die Robotern helfen könnten, sich schneller an neue Situationen anzupassen. Die International Federation of Robotics betont, dass generative KI-gesteuerte Schnittstellen bereits heute die Programmierung durch natürliche Sprache ermöglichen.
Ein weiteres Problem ist die Autonomie. Fragen rund um Teslas Optimus zeigten, dass der Grad der tatsächlichen Selbstständigkeit oft noch hinter den Erwartungen zurückbleibt. Auch die Wirtschaftlichkeit muss sich noch beweisen: Spezialisierte Industrieroboter übertreffen humanoide Systeme derzeit noch in Präzision, Geschwindigkeit und Kosteneffizienz.
Ausblick: Der Wendepunkt naht
Branchenexperten sind sich einig: 2024 markierte die Entwicklung fortschrittlicher Prototypen, 2025 läutet den Beginn der Massenproduktion ein und 2026 könnte zur breiteren kommerziellen Akzeptanz führen. Mindestens fünf Hersteller sind im Begriff, die Serienproduktion starten.
Was bleibt, ist die Erkenntnis: Humanoide Roboter verlassen die Labore und werden zur industriellen Realität. Ob sie tatsächlich so disruptiv wie Computer oder Smartphones werden, wie manche Marktbeobachter prognostizieren, wird sich zeigen. Voraussichtlich bereits in den nächsten Jahren.